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Shane MacGowans Zähne: Von kaputt bis komplett – Die faszinierende Geschichte seiner Kauleiste

Shane MacGowans Zähne

Shane MacGowans Zähne – Vielleicht zeigt es, wie sehr die Ideologie der Eigenverantwortung so selbstverständlich geworden ist, dass uns diese Idee so logisch, richtig und moralisch erscheint. Superpunk aus Hamburg sang einmal darüber, wie ein Typ einen reichen Geschäftsmann entführt, um Geld zu erpressen.

Daraufhin entschuldigt sich der Anführer und sagt: „Ich bin nicht böse geboren / Ich möchte nur neue Zähne für meinen Bruder und mich.“ „Die Leute wenden sich von uns ab, was mich nicht überrascht / Denn wir sehen aus wie kranke Menschen aus dem letzten Jahrhundert.“ Vielleicht ist diese Erklärung deshalb so einfach zu erklären, weil sie sich auf den Zahn konzentriert:

Auch wenn wir klein sind, sind wir heiß.

Im Herzen trösten wir uns mit dem Wissen, dass wir stark, aber attraktiv sind, wenn wir uns über unsere nicht gerade idealen Lebensbedingungen beschweren. Wir sind nicht in der gleichen wirtschaftlichen Lage wie die Vorstadtbezirke und es ähnelt überhaupt nicht den Romanen von Charles Dickens. Er akzeptiert weiterhin unsere Solidarität, also ist dies vielleicht der gefährlichste Trost. Vielleicht wäre es besser, wenn wir wieder als Menschen aus dem vergangenen Jahrhundert dargestellt würden. So wie Shane MacGowan, bevor ihm die Zähne ausfielen.

Dieser Text ist in der Mai-Ausgabe 2016 von NEON erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier nachbestellen. NEON gibt es auch als eMagazine für Android und iOS. Auf Blendle können Sie die Artikel auch einzeln kaufen.

Quadratisches Haar, ein Ring unter den hellblauen Augen und eine breite Nase sind allesamt verräterische Merkmale dieses Mannes. Hätte er nicht seine beiden Zeigefinger entblößt, die den Mundwinkel in einer Art Lächeln nach oben drücken und eine makellose Reihe weißer Zähne und einen goldenen Eckzahn enthüllen, könnte es sich um den ehemaligen Pogues-Sänger Shane MacGowan handeln.

Aber das ist er. Da ihm sein zweiter Zahn ausfiel, als er noch ein Milchzahn war, hatte ihn niemand – nicht einmal seine Mutter – je mit Vollbart gesehen. 2008 verlor er seinen letzten natürlichen Zahn, während er völlig in eine Platte der Beach Boys vertieft war. Die Restaurierung von MacGowans Werkzeug war kürzlich Thema einer Dokumentation mit dem Titel Shane MacGowan: A Wreck Reborn. Sie war so erschreckend, dass man den Film besser an Halloween hätte zeigen sollen.

Der Chirurg Darragh Mulrooney arbeitete neun Stunden lang an MacGowans Mund. Am Ende, sagte Mulrooney, habe er den „Everest der Zahnmedizin“ erreicht. Es war ein bewegender Anblick für MacGowan, der seit 20 Jahren keinen Apfel mehr gesehen hatte. Der Arzt warnte, dass sein Gesang durch seine neuen Zähne beeinträchtigt werden könnte.

Bei den ersten Auftritten der Pogues, die MacGowan 1981 gründete, war das Publikum schockiert, als er mit offenem Mund sang. Alkohol und Heroin beschleunigten den Prozess des Zahnens. MacGowan erzählt, dass seine Großmutter Nora sein Versprechen brach, die Farm nie zu verlassen, als er gerade vier Jahre alt war, und dass sie ihm Alkohol als Belohnung gab. Nachdem er im Alter von zehn Jahren Whisky entdeckte, wurde er zum Gewohnheitstrinker.

Trotz seiner Drogenprobleme blieb MacGowan ein brillanter Komponist und Songwriter. Sein kleines Weihnachtslied „Fairytale of New York“ lief letzte Woche wieder in Millionen von Haushalten. Früher war er als Leadsänger der Band Pogue Mahones bekannt, deren Name auf der irischen Phrase „Póg mo thóin“ basierte. Radiosender spielten seine Platten nicht mehr, weil das Äquivalent zu „Leck mich am Arsch“ war, und änderten den Namen.

Bei Pogues-Konzerten war es nicht das Publikum, das nachgeben musste; es war meist Erbrochenes. MacGowan trug ständig eine Whiskyflasche in der einen und das Mikrofon in der anderen Hand. Seine Bandkollegen verließen ihn 1992 wegen seines „unprofessionellen Verhaltens“, aber er wurde über ein Jahrzehnt später zurückgeholt, als ihnen klar wurde, dass es nur eine Ein-Mann-Show war. Im Jahr 2002 erbrach sich MacGowan bei einem Konzert im Dubliner Olympia Theatre, bei dem er aufgehört hatte, in die erste Reihe der Zuhörer.

Im Moment sterben viele Popstars, aber ich war über Shane MacGowans neue Zähne mehr verärgert als über Lemmy Kilmister oder David Bowie.

Der Illustrator ist Matteo Morelli.

Nein, nein, der großartige Shane MacGowan von der irischen Folk-Punk-Band The Pogues ist gesund und munter. Für jemanden, der über Lemmy Kilmisters Trinkerei und David Bowies Heroinkonsum nur müde lächeln kann, mag das durchaus der Fall sein. Und genau hier läuft es schief: Shane MacGowan kann jetzt wieder in Ohnmacht fallen. Shane MacGowan hat wieder Zähne. Salat, nur Zähne. Deshalb habe ich große Schmerzen.

Seine kaputten Genitalien waren immer sein Markenzeichen, seine geheime Superkraft, sein Identifikationsangebot für die Ausgestoßenen. Schon bevor er in den 1980er Jahren mit den Pogues berühmt wurde, war sein Körper eine Ruine, ein Sammelsurium aus grünen Stümpfen und Lilien, verursacht durch kaputte Knie und Verstauchungen. „Ich hätte jemand sein können / Nun, jeder hätte es können“, so lauteten die Zeilen, die er und Kirsty MacColl 1987 in „Fairytale of New York“ sangen, seinem größten Hit, den er wie ein Großvater ohne Frau vortrug: „Ich hätte jemanden haben können / Nun, jeder hätte es können.“

Ein Lied konnte also nur mit kaputten Zähnen gesungen werden. Mit Zähnen, die wirklich hässlich sind. Gerüchten zufolge träumte ein amerikanisches Plattenlabel namens MacGowan einem Käufer die tatsächliche Ansicht eines Pogues-Albumcovers mit einem gesunden Gebiss nach, weil die reale Ansicht nicht akzeptabel war.

Nun ist das unnötig: Shane MacGowan ließ sich im vergangenen Jahr alle Zähne ersetzen, nachdem ihm 2008 der letzte ausgefallen war. Eine Dokumentation darüber lief kürzlich sogar im britischen Fernsehen. «A Wreck Reborn» hieß der Film, der von einem frisch verheirateten Wrack handelt.

Natürlich hätte MacGowan, der in letzter Zeit unter starken Zahnschmerzen litt, sein neues Baby nicht zur Welt bringen sollen. Und doch hat er für mich etwas verloren, seit ich von seinen neuen Zähnen erfahren habe. „Fairytale of New York“ löst bei mir nicht mehr denselben Schrecken aus wie früher. Ich muss mich wieder mit meinen eigenen Zähnen auseinandersetzen.

Die schlimmste Angst vor dem Zahnarzt hatte ich mit Mitte zwanzig, nicht als Kind. Während ich an der Uni arbeitete, verdiente ich sehr wenig. Es gab keine Eltern, die im Notfall eingreifen konnten. Auch hatten sie mir kein Erbe hinterlassen. Mein Problem war allerdings, dass ich schreckliche Zähne hatte. Meist gelang es mir, mich an meine prekäre Situation anzupassen.

Als meine Nummer wegen Nichtzahlung meiner Rechnung gesperrt wurde, holte ich die andere SIM-Karte aus meinem Portemonnaie und am Ende des Monats nahm die Zeitung sie ungefragt aus meinem Zeitungsstapel. Eigentlich ist alles sehr schön. An einem verregneten Wochentag blieb mir jedoch einmal etwas Hartes und Unangenehmes im Mund stecken. Es war ein abgebrochener Zahn. Ich warf ihn weg.

Beim Thema Zähne liegen wir einen Grad auseinander.

Eigentlich war meine größte Angst damals, dass meinem Zahn etwas passiert. Ich könnte mir keinen Ersatz leisten. Es war kein Cent da. Ich hätte mit einer Zahnlücke rumlaufen müssen. Ich hätte nicht genug Geld gehabt, wenn es jemandem aufgefallen wäre. Weil es meine Schuld gewesen wäre, hatte ich natürlich große Angst davor. Wenn ich öfter zum Zahnarzt gegangen wäre. Wie es ist, wenn sich niemand um einen kümmert, habe ich zum ersten Mal gemerkt, als ich das Zahnstück ausgespuckt habe.

Ich werde mich nicht beschweren; ich war nicht arm, ich hatte genug Geld für Bier, eine Ausbildung und eine Zukunft. Aber man merkt erst an den Zähnen, wie schnell alles verfliegen kann. Aus dem Nichts taucht etwas auf, das man braucht, und man beschließt: Wenn man nicht aufpasst und eine Augenbinde trägt, kommt niemand und nimmt einem das Geld weg. In diesen Momenten dreht sich die Hälfte des Witzes darum, dass MacGowan irgendwann wegen eines kaputten Knies zusammenbricht: „Ich hätte jemand sein können, jeder hätte es sein können!“

Zähne sind eine einsame Angelegenheit: Die Tatsache, dass es einen Arzt gibt, der sich ausschließlich mit Zähnen beschäftigt, bereitet uns so viel Ärger. Die Tatsache, dass wir uns so besonders um sie kümmern müssen. Die Tatsache, dass ein Mensch kaum so starke Schmerzen wie in seinen Zähnen empfinden kann, sofern er nicht einen sehr schweren Schock erleidet. Und die Tatsache, dass unser relativ komfortables Gesundheitssystem so teuer ist, weil Zähne einer der wenigen Körperteile sind, die in diese Kategorie fallen.

Besonders bemerkenswert sind die Zähne. Sie sind ein Barometer, ein Frühwarnzeichen dafür, wie es sich anfühlen wird, wenn das soziale Netzwerk, auf das wir uns noch immer verlassen, zunehmend instabil wird. Wenn ein Zahnarzt nicht erklärt, wie viel es kostet, einen Zahn zu ersetzen, wird das Lesen von tausend klugen Texten über den Neoliberalismus keine Wirkung haben.

Bei der Abschlussfeier 2010 am New Yorker Pratt Institute, einer der renommiertesten Kunsthochschulen der USA, sprach Patti Smith zu den Absolventen. Denn ihr Künstler wird nie genug Geld für eine Zahnbehandlung haben.

Was Patti Smith hier sagt, ist nicht mehr nur für gruselige schwarze Künstler oder die USA relevant. Es gilt auch für uns. In den alten, goldenen Zeiten war es für unsere Eltern anders. Es wurde für alles gesorgt. Für eine kurze Zeit in den 1970er Jahren zahlten die Krankenkassen den vollen Preis für jede Krone und jeden Schlaganfall. Eigenverantwortung, Bonushefte, Deregulierung, die Auflösung des Sozialstaates und so weiter. Wer regelmäßig zum Zahnarzt geht, bekommt bei Karies bessere Hilfe.

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