Wolfgang Schäubles letzte Rede vor dem Bundestag –Ich habe mir in meinem Alter und meiner Amtszeit eine besondere Rolle ausgesucht, weil ich es wirklich vermeiden möchte, unaufgefordert Ratschläge zu erteilen. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihr freundliches Angebot, heute zu Ihnen zu sprechen, Frau Präsidentin, respektvoll ablehnen.
Aber vielleicht ist es ein Konzept. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden eine öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie wir die Effizienz unserer Regierung, unserer Bundesstaaten und Kommunen wiederherstellen könnten, indem wir unsere Pflichten und Verantwortlichkeiten neu organisieren, einschließlich der Zuweisung eigenverantwortlicher Investitionen, und indem wir die Auswirkungen perfektionistischer Überregulierung überwinden, die uns wie Gulliver in vielerlei Hinsicht nahezu regierungsunfähig gemacht hat.
Wir sollten den interessanten Hinweis nutzen, den die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften gerade gegeben haben. Wenn wir zu einer realistisch umsetzbaren politischen Agenda zurückkehren, können wir der Öffentlichkeit zu verstehen geben, dass Demokratie mehr ist als nur ein Supermarkt für Welpenjäger; sie ist eine Waffe an sich. Dass es neben Rechten auch Pflichten gibt und dass jeder nach seiner individuellen Entscheidung sein Möglichstes tun muss, um zum Gemeinwohl beizutragen.
Wir sollten uns auch daran erinnern – gerade in diesem jetzt so oft beschriebenen Systemwettbewerb – dass trotz all unserer Probleme die Prinzipien unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung fast überall auf dem Planeten, wo diese Werte nicht umgesetzt werden, eine so verheerende Wirkung haben, dass die Unterdrückten danach suchen und die Diktatoren sich vor ihnen fürchten. Es ist also unsere Pflicht, zu zeigen, dass dies funktioniert.
Davon bin ich auch in der aktuellen Krise überzeugt, denn sie macht es uns schwer, ohne allzu großen Perfektionismus politische Mehrheiten für notwendige Veränderungen zu finden, solange es uns gut geht. Die Chance, eine stabile Mehrheit für notwendige Veränderungen zu erreichen, steigt, je mehr wir darauf hören, dass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Das ist Karl Poppers Theorie einer offenen Gesellschaft, die durch Versuch und Irrtum immer wieder neue Lösungen findet; Krisen sind also immer auch Chancen.
Wir haben also Grund, dies zu vermuten. Das gilt heute genauso wie vor 50 Jahren. Die jetzige Abstimmung dürfte nicht die letzte sein, bei der wir über die Grenzen unserer Partei hinweg mit überwältigender Mehrheit entscheiden. Nach den leidvollen Erfahrungen der letzten Legislaturperiode wäre ich nicht so beunruhigt, wenn es etwa beim Wahlrecht so geblieben wäre, wie es war.
Eine wohlverdiente Wahlrechtsreform durchzusetzen war allerdings nicht einfach – und dennoch scheint sie gescheitert zu sein. Mehr will ich dazu nicht sagen, außer, dass es eigentlich unangebracht wäre, bei einer Entscheidung dieser Tragweite der politischen Macht im Parlament die Mitbestimmung über eine tragfähige Lösung zu entziehen.
Aber Konsens wird in diesem Haus nicht die Regel sein, und das sollte er auch nicht sein. Dies ist der Ort, an dem wir uns streiten können. Wir sollten dagegen ankämpfen. Normativ und fair. Leidenschaftlich, aber auch mit der Anmut, die eine verlegene Persönlichkeit des öffentlichen Lebens an den Tag legen würde.
Wir müssen immer bestrebt sein, die Faszination der großen, kontroversen Debatte einzufangen, wenn wir das Repräsentationsprinzip stärken wollen. Denn die Entwicklungen in einer vernetzten Welt mit ihren wechselnden Herausforderungen machen es nicht nur zu einem notariellen Ereignis zur Ausarbeitung von Koalitionsverträgen, das Parlament ist, wie wir gelernt haben, immer auch eine politische Bühne.
Mit freundlichen Grüßen Die ehemalige Bundestagspräsidentin war Frau Renger. Sie war sehr besitzergreifend gegenüber dem Haus, wie sie es damals empfand. Ihre unerwartete Entscheidung, einem parlamentarischen Assistenten zu erlauben, einer unbewaffneten sozialdemokratischen Kollegin im Plenum eine Mappe zu bringen und diese ohne Einwände anzubringen, stieß bei ihrer Kollegin auf Missbilligung.
Übrigens finde ich nicht, dass es jemals besonders bemerkenswert war, dass dieses Amt von einer Frau bekleidet wurde. Viele Leute denken, dass vor 50 Jahren einiges völlig klar war, aber vielleicht war es das auch. Damals war es beispiellos, dass ein Sozialist dieses Amt bekleidete, aber heute scheint das nichts Neues zu sein.
Tatsächlich lenkte bereits der erste Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums im Jahr 1972 die Aufmerksamkeit erstmals auf die Risiken eines rapide steigenden Ressourcenverbrauchs und zunehmenden Umweltdrucks. Trotz dieser großen Aufmerksamkeit identifizierte der Bericht jedoch kaum praktische Konsequenzen.
Ich verstehe es; jungen Menschen heute zu erklären, warum es selbst in freien Gesellschaften so langsam vorangeht, ist für parlamentarische Demokratien ein Problem. 1973 kam es zur ersten Energiekrise, weil die damals dominierenden arabischen Staaten, die OPEC, die westlichen Länder durch die Einschränkung der Ölexporte zu einer weniger israelfreundlichen Politik bewegen wollten. Sonntagsfahrverbote waren eine Folge der Adventszeit 1973. In dieser Zeit steigt der Spareffekt beim Ölverbrauch.
Die steigende Inflation und die damit verbundenen Gefahren für Wachstum und Beschäftigung waren ein zentrales Thema des Wahlkampfes meiner Partei im Jahr 1972. In einer Gesellschaft, die sich zunächst auf das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit konzentriert hatte und nun Unterstützung für andere Reformen entdeckte, war uns der Wahlkampf von 1969 bis 1972, in dem wir die Errungenschaften unserer Koalition unterstützt hatten, auf ganzer Linie gescheitert.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt und die wachsende öffentliche Unterstützung für die neue Ost-West- und deutsche Politik der begrenzten Zusammenarbeit unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ kamen für uns sehr überraschend.
Das ist nicht alles neu, auch wenn es heute anders scheint als vor 50 Jahren. Aus meiner Erfahrung kann es passieren, dass aus zunächst idealistischen Protesten, die dann zu illegalen Mitteln greifen, schlimme Entscheidungen resultieren. Daher ist es gut, dass unsere Behörden auch hier die Eltern einbeziehen.
Auch wenn sich die Geschichte nicht wiederholt, kann ein objektiver Blick auf die Entwicklungen Entscheidungshilfen für Gegenwart und Zukunft liefern. Nach Putins Invasion in der Ukraine mussten wir erneut lernen, dass Bereitschaft zu Kooperation und Partnerschaft nicht bedeutet, die Fähigkeit zur Verteidigung oder zum Angriff aufzugeben. So hieß es im NATO-Harmel-Bericht von 1967. Nachdem Helmut Schmidt 1979 den sogenannten Doppelbeschluss innerhalb der NATO durchsetzte, kam es Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zu einer gesellschaftlichen Debatte.
Er wollte eine Lücke in der Glaubwürdigkeit der Abschreckung schließen, denn die Sowjetunion hatte mit ihren Mittelstreckenraketen eine potentielle Bedrohung geschaffen, die nur Europa, nicht aber Amerika erreichen konnte, und Helmut Schmidt und später die NATO waren überzeugt, dass diese Bedrohung entweder eliminiert oder durch die Stationierung von Mittelstreckenwaffensystemen in Europa ausgeglichen werden müsse. Dieses zweischneidige Schwert kostete Helmut Schmidt den Rückhalt seiner Partei.
Eine der größten Leistungen von Bundeskanzler Kohl nach dem Regierungswechsel 1982 war meiner Meinung nach, dass er diesen Nato-Doppelbeschluss trotz heftiger öffentlicher Widerstände durchgesetzt hat. Vielleicht wäre die Geschichte mit Michail Gorbatschow ohne diesen Beschluss anders ausgegangen. Putin hat uns jetzt jedenfalls gezeigt, dass wir den Frieden im 21. Jahrhundert nur sichern können, wenn wir auch in der Lage sind, uns notfalls zu verteidigen. Wir wussten es, so AKK, wollten es aber lieber nicht sehen.
Samuel Huntington hatte bereits 1990 in seinem Werk „Das Ende der Geschichte“ Francis Fukuyamas Behauptung, liberale Demokratien würden irgendwann zusammenbrechen, infrage gestellt, und dies tat er 1996 in seinem Werk „Kampf der Kulturen“. Wir streben weiterhin nach dem richtigen Gleichgewicht zwischen unserer universellen Verantwortung für die Menschenrechte und unserem Respekt für unterschiedliche Kulturen, Traditionen und Wertesysteme.
Jedenfalls haben wir im Vergleich zu 1972, als die Polarität des Ost-West-Konflikts für uns in Europa alles andere zu überschatten schien, die größere Vielfalt und zugleich Verflechtung globaler Strukturen lernen müssen. Und wir sehen, dass wir in Europa und in Deutschland härter werden müssen, wenn wir unseren eigenen Ansprüchen im globalen Ranking gerecht werden wollen, auch wenn diese nur teilweise erfüllt werden.
Vielleicht müssen auch wir Deutschen uns anpassen, um als Verwalter, deren Ansprüche nicht erfüllt werden, im globalen Maßstab nicht zu viel Sympathie einzubüßen. Unser insgesamt unbefriedigendes Abschneiden bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar könnte hier Auswirkungen haben.
Die Auswirkungen auf die Stabilität unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung müssen wir in allen Teilen der Welt, in denen es entsprechende Demokratien gibt, mit Sorge beobachten. Denn die öffentliche Kommunikation hat sich gewandelt und verlagert sich viel stärker von Print- und elektronischen Medien hin zu sozialen Netzwerken.
Je mehr wir versuchen, alle Probleme immer besser zu lösen, desto mehr scheint das Vertrauen in die Politik zu schwinden, dass sie Probleme löst, den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleistet und einen verlässlichen und ausgewogenen Rahmen für Freiheit und Sicherheit bietet.
Ich weiß nicht, wie viele Entbürokratisierungskommissionen und -initiativen wir in diesen 50 Jahren hatten, aber sicher ist nichts besser geworden. Wir haben zwar zwei Föderalistische Kommissionen eingerichtet, die zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung vermitteln sollen, aber niemand behauptet ernsthaft, dass das im Prinzip nahezu unumstrittene föderale System unseres Landes heute bei Bund, Ländern und Kommunen eine hohe Wertschätzung genießt.